Unsere Autorin Lara ist selbst von einer Lese-Rechtschreib-Störung betroffen und äußert sich hier zum jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts.

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden. Der „Legasthenie-Vermerk im Abi-Zeugnis [sei] zulässig“, so kommentierte zumindest der Instagram-Account der Tagesschau das Urteil. Dass die offizielle Bezeichnung eigentlich Nachteilsausgleich für Schüler*innen mit einer Lese-Rechtschreib-Störung heißt, bleibt hier wohl bewusst unerwähnt. Denn dies würde ja implizieren, dass zwischen allen Schüler*innen wirklich eine Chancengleichheit bestehen würde und diese nicht durch diesen einen Satz im Abi-Zeugnis wieder aufgehoben wird. Es würde bedeuten, dass bei den Abiturprüfungen wirklich nur Wert auf die fachliche Leistung gelegt wird und nicht auf außer- fachspezifische Inhalte, wie die Lesegeschwindigkeit oder Kommasetzung. 

Grundsätzlich gilt ja die Idealvorstellung, dass alle Abiturient*innen oder jegliche andere Schulabgänger*innen ihre Prüfungen unter den gleichen Voraussetzungen antreten sollten. Wenn aber aufgrund einer Behinderung oder eben wie hier, einer Lese-Rechtschreib-Störung, ein Nachteil besteht, welcher durch einen NachteilsAUSGLEICH ausgeglichen werden soll, wäre es nur fair diesen Ausgleich bei der Bewertung sowie auch bei der Dokumentation der Prüfungsergebnisse nicht zu beachten. Alles andere ist nicht nur nicht fair, sondern schlichtweg diskriminierend. 

Generell sollten nicht die grundsätzlichen „Randbedingungen“, die während einer Prüfung herrschen, welche beispielsweise auch Gleichberechtigung gewährleisten, bewertet werden, sondern einzig und allein die fachlich relevanten Inhalte. Das Vorhandensein einer Lese-Rechtschreib-Störung oder nicht, stellt für die Evaluation einer Prüfung somit eine völlig irrelevante Information dar. 

Dieses Urteil, welches „das öffentliche Interesse an Transparenz bei Prüfungen“ über „das Interesse von Betroffenen, ihre behinderungsbedingten Einschränkungen nicht offenzulegen“ (https://www.instagram.com/tagesschau/ vom 22.11.2023) stellt, sorgt nicht nur für ein Ungleichgewicht oder Ungerechtigkeiten bei späteren Bewerbungsverfahren, welche entgegen aller Kritiker faktisch existieren, sondern spricht Betroffenen auch das Recht ab, selbst zu entscheiden, wann und vor wem sie sich dafür entscheiden, ihre ‚Störung‘ offenzulegen. Da hört der sonst so penible deutsche Datenschutz dann wohl auf.

Es spricht auch mir persönlich die vielen kräftezehrenden Stunden ab, die meine Eltern und ich in meiner Grundschulzeit damit verbracht haben, meine Lese- und Rechtschreibkompetenz zu verbessern, damit ich jetzt, aufgrund dieser Unterstützung und meiner eigenen Anstrengungen, ohne den Nachteilsausgleich zurecht komme. Wodurch ich nicht den Nachteil habe, den dieser eine Satz „Auf die Bewertung des Rechtschreibens wurde verzichtet“ in meinem Abi-Zeugnis mit sich bringen würde. Es spricht mir die potentiellen Notenpunkte ab, welche ich aufgrund von Zeitknappheit durch eine langsame Lesegeschwindigkeit, nicht erhalten habe. Es spricht mir und vielen anderen Betroffenen die Demütigung ab, welche wir jedes Mal aufs neue erfahren, wenn wir einen Text laut vorlesen müssen.

Das beste Beispiel ist hierfür, dass ich vier Versuche gebraucht habe, um das Wort „Legasthenie“ auf dem Instagram-Post der Tagesschau zu entziffern, um mich kurz darauf wieder zweimal bei dem selben Wort zu verlesen, als ich den Inhalt des Posts meiner Schwester vorgetragen habe. Oder auch, dass ich diesen Text mindestens drei Personen vorlegen werde, um ihn auf Komma- und Rechtschreibfehler überprüfen zu lassen, womit er hoffentlich die nötige Professionalität erreichen wird, um meinen Standpunkt unmissverständlich vermitteln zu können. 

Jedoch ist die vorhin erwähnte Unterstützung meiner Eltern auf keinen Fall selbstverständlich. Für alle anderen die nicht das Glück haben, so unterstützende Eltern hinter sich stehen zu haben wie ich, ist dieser Nachteilsausgleich ein notwendiges Mittel, um einer Chancengleichheit auch nur annähernd gewährleisten zu können. So kommt es, dass eine 18-jährige Abiturientin am Abend vor ihrer Englisch-Klausur um 22:32 Uhr durch diesen Text zur öffentlichen demokratischen Meinungsbildung in unserem Rechtsstaat beitragen möchte, anstatt für die morgige Klausur zu lernen. 

Und auch wenn sich die Wahrnehmung der Lese-Rechtschreib-Störung in den Augen der Öffentlichkeit in den letzten Jahren stark gewandelt hat und nun definitiv mehr Akzeptanz herrscht, war dies auf jeden Fall nicht immer so. Dieser Fortschritt wurde durch sehr viel Aufklärungsarbeit hart erkämpft und sollte nicht als selbstverständlich angesehen werden. Jedoch handelt es sich bei der Vorstellung von Chancengleichheit im deutschen Schulsystem, nicht nur bezogen auf die Lese-Rechtschreib-Störung, sondern auch angesichts von Themen wie der zunehmenden sozialen Ungleichheit, um reines Wunschdenken. Deswegen sollte der Fortschritt, welcher uns zu dem Punkt, an dem wir gerade auf diesem Prozess hin zu mehr Alltags-Inklusion in unseren Schulen stehen, nicht zu Stagnation anregen, sondern eher dazu beitragen, weiter den mühsamen Weg Richtung Gleichberechtigung zu gehen. Das momentane Urteil stellt auf diesem Weg leider nicht nur eine Stagnation dar, sondern eher sowas wie eine Kehrtwende in Richtung Tal auf dem Weg zum Gipfel. 

Klar ist hierbei, dass das riesige und allumfassende Wort „Gleichberechtigung“ einen Idealzustand beschreibt, der eigentlich nur in pädagogischen Modellen und Fachbüchern existiert. Jedoch ist ein praktisch unerreichbares Ziel kein Grund, nicht den Weg dorthin einzuschlagen und es zumindest zu versuchen. Und natürlich wäre es wünschenswert, dass es keinen Unterschied machen würde, ob der „Legasthenie-Vermerk“ im Zeugnis steht oder nicht. Was allerdings eine maximal tolerante und aufgeklärte Gesamtbevölkerung in Deutschland voraussetzen würde. Wieder Wunschdenken. Da wäre es doch der wesentlich einfachere Weg diesen „Vermerk“ einfach aus allen Zeugnissen zu verbannen und so auf einfacherem Wege für mehr Inklusion zu sorgen. 

Kommentar/Symbolfoto: Lara Q.