Eine Geschichte zur Weihnachtszeit:

Queensbridge, New York

In einer Zeit, in der hinter jeder Ecke Zuckerstangen verkauft werden, darf es niemanden wundern, dass mir dieser ganze verklebte Weihnachtsscheiß irgendwann aus den Ohren rauskam. Sie alle tranken alkoholisierten Eierpunsch, warfen aber mir und meinem Flachmann böse Blicke zu. Angesichts meines Jobs war es aber auch verständlich. Mich mit einer Kippe zwischen den Fingern, Alkohol und einem total verdreckten Elfenkostüm zu sehen, wirkte nicht besonders vertrauenserregend, um ihre Kinder in der nächsten Schicht zu uns zu lassen. Ich stand auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums und drückte meine Kippe aus, ich löschte die Flamme tatsächlich mit meinen grünen klimpernden Schuhen aus. Wäre ein ulkiger Witz gewesen, wäre er wahr gewesen. Das dachten sich wohl auch die drei Frauen, auf der gegenüberliegenden Seite des Parkplatzes. Mit ihren heuchlerischen Pelzmänteln und den prallen Einkaufstaschen gönnten sie sich eine Pause von ihrem gemütlichen Trip durch die Mall und nutzten den Moment, mich aus sicherer Entfernung zu verspotten. Alle Mitte vierzig, aufgequollen und verurteilend. Ich wusste genau, was sie dachten, denn im nächsten Augenblick steckten sie die Köpfe zusammen und tuschelten. Wie alte Schulmädchen.
Doch ich schenkte ihnen nur ein aufreizendes Lächeln – ich ließ die Flasche wohlbemerkt neben den Mülltonnen stehen – und machte mich wieder auf den Weg in meine nächste Schicht. Ich schlängelte mich durch die lauten, pappsüßen Mengen und rammte meinem Nachbar bei Gelegenheit meinen Ellenbogen in die Rippen. Die Mall war voller Weihnachtsdeko, mit bunten Lichtern und noch mehr kitschigem Kram geschmückt.
Beschissenes Weihnachten.
Beschissenes Fest.

Und siehe da: meine Laune wurde sogar noch beschissener, als ich im Hinterzimmer ankam.
„Du siehst heute wirklich sehr gut aus, Kiara. Hätte mich gewundert, wenn du auch mal mit frischen Klamotten zu deinem zweihundert Dollar Job kommst.“ Maria, die ehrenamtlich die nächste Schicht mit mir übernehmen würde, zwinkerte mir zu. Ein Schauer durchfuhr mich, den ich sofort abschütteln wollte. Den anderen Kollegen versüßte sie den Alltag, mir bescherte sie die Hölle auf Erden. Jede Situation war eine gnadenlose Jagd auf den besseren Ruf und ich war das gefundene Fressen. Ja, Maria war nett, ihre Eltern hatten Geld und dann besaß sie auch noch die wundersame Gabe jeden Menschen um sich herum in ihren Bann zu ziehen. Nur mich nicht. Vielleicht hatte ich nicht die Weisheit mit dem Löffel gefressen, mir aber an der teilweise glühend heißen Wahrheit Finger und Lippen verbrannt. „Wieso hängst du dich nicht einfach zusammen mit den hässlichen Lichterketten auf und wartest auf Neujahr?“ Sie prustete. „Ich schaue mir lieber an, wie du den kleinen Kindern ein Stück der Vorfreude nimmst. Manchmal wünschte ich, du wärst zumindest ein winziger Teil der Gesellschaft.“ Ich schenkte Marie keine Aufmerksamkeit mehr, sondern bewegte mich zu der Türe, schwang sie auf und marschierte raus. Ich stellte mich zu den anderen zwei Elfen und unserem Kollegen Roland, der dem Ganzen in seinem Weihnachtsmannkostüm die Krone aufsetzte. Ich beachtete niemanden von den anderen, sondern machte mich bereit, den ganzen Kindern in den nächsten vier Stunden unbedeutend zu winken. Tatsächlich tat ich nur das.
Und für jemanden, der vor der Schicht etwas getrunken hatte, machte ich meinen Job ausgesprochen gut.
Die Kinder rannten los, sobald sie das Zeichen von uns bekamen, setzten sich auf den Schoß von Roland und erzählten ihm alle Herzenswünsche.
Wäre ich nicht so verkorkst, hätte ich es süß gefunden.
Da ich nicht viele neue Eindrücke sammelte, vergingen die Stunden vergleichs-weise schnell und draußen wurde es immer dunkler. An diesem Freitag waren es auch nicht unbedingt viele Besucher und die Schlange wurde rapide kürzer. Will, unser anderer sonderbarer Elf, ging mit einer kleinen Schale voller Zuckerstangen herum und verteilte den letzten Rest unter den Kindern. Solange, bis nur noch drei übrig waren. Eine schenkte er Rosie, die andere Maria und die letzte behielt er für sich. Ich hätte mich nicht deswegen beschwert, die Zuckerstangen waren ohnehin alt. Aber er stellte sich vor die Kinder und sagte lautstark: „Oh, das tut mir leid, der Weihnachtsmann muss dich wohl vergessen haben, Kiara.“ Schallendes Kindergelächter und ein finsterer, hasserfüllter Blick von Maria. Es war meine Schuld, warum die Menschen mich so behandelten, wie sie mich behandelten. Ich war keine zimperliche Prinzessin, sondern der verdammte Satan in jung und weiblich. Zugegeben, ich verhielt mich vielen Personen gegenüber schlecht, aber ich hatte meine Gründe. An normalen Tagen hätte mir Wills schlechte Provokation nichts ausgemacht. Aber heute war er der letzte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Oder, weihnachtlicher ausgedrückt: er war die letzte Schneeflocke gewesen, die auf dem Schneemann gelandet war. „Weißt du was, Will?“, unterbrach ich das Lachen, packte meine grüne Mütze und warf sie vor seine Füße. „Steck dir deine Zuckerstangen sonst wo hin. Ich bin hier fertig!“ Sie hörten auf zu lachen. Und ich ging einfach raus.
Ich zog mich in der Umkleide schleunigst um und warf meine Arbeitsklamotten in eine der Ecken. Mir war jetzt alles scheißegal gewesen. Ob dieses Gebäude Feuer fing oder ich die zweihundert Mäuse kriege – im Endeffekt hatte ich sowieso nichts. Ich stolperte durch die nächste Türe ins Freie, wo mich ein von winterlichen Wolken verhangener Himmel erwartete. Die kalte Luft legte sich wie eine Schicht auf meine erhitzten Wangen und meine Finger. Dann atmete ich einige Male tief ein und aus und setzte mich an eine der dreckigen Mauern. Ich lehnte meinen Kopf zurück und griff automatisch nach der Zigarettenschachtel in meiner rechten Tasche. Ich nahm eine heraus, zündete sie mit dem Feuerzeug an und zog kräftig am Filter und der Rauch vermischte sich mit der kalten Luft. Ich hatte eine Aufgabe gehabt, mich zumindest für einige Tage über Wasser halten zu können, aber selbst die Chance war mit einem Mal an mir vorbeigerauscht. Das bisschen Geld von mir war genug, mir das zu kaufen, was ich zum Überleben brauchte. Der Rest … ? Nun, es gab keinen Rest. Nur das bisschen. Um ehrlich zu sein, war ich selbst daran schuld, aber auch nicht wirklich. Ich war allein auf dem Parkplatz gewesen und irgendwann muss ich eingenickt sein.

„Schläfst du?“, hörte ich jemanden sagen. Die Stimme war leise, leicht verschlagen und piepsig. Kurz darauf rüttelte es an meinen Schultern und ich öffnete die Augen. Ein kleiner, blondhaariger Junge stand vor mir. Langsam richtete ich mich auf und runzelte die Stirn. Ich wischte mir die Strähnen aus dem Gesicht. „Was zum Teufel … ? Wer bist du?“, fragte ich. Statt mir zu antworten, hielt er mir etwas entgegen. Ich kniff die Augen zusammen, weil die Dunkelheit mir erschwerte, den Kleinen selbst überhaupt zu erkennen. Aber die verschwommenen Umrisse nahmen nach und nach Konturen an; der Kleine stand dick eingepackt in seiner Winterjacke und Winterstiefeln vor mir. Er lächelte schüchtern. „Ich habe dich vorhin gesehen. Ich stand in der Schlange zum Weihnachtsmann.“ Dann warf ich einen Blick nach unten, auf seine roten Handschuhe.
Eine Zuckerstange. „Ich finde es nicht schön, wenn der Weihnachtsmann jemanden vergisst. Das darf er nicht!“
Ich spürte einen ziemlich festen Kopfschmerz und ich verzog das Gesicht. „Was?“
Der Junge grinste mich an und packte schließlich meinen Hand, um die Zuckerstange reinzulegen. „Warum bist du hier so allein?“
Wieder antwortete ich nicht, stattdessen schloss ich meine Finger fest um die Zuckerstange und starrte ihn nur an. Es kam mir komisch vor, es zuzugeben, aber irgendwie blieb mir ein gemeiner Kommentar im Hals stecken. Die Augen dieses kleinen Jungen funkelten, so sehr, dass sie mich an zwei nicht so weit entfernte Sterne erinnerten. Ich richtete mich vollständig auf. „Wieso bist du allein? Und wer bist du überhaupt?“ Er drehte sich um und zeigte auf einen vereinzelten rostroten Volvo hatchback. „Ich bin Liam. Meine Mutter ist noch schnell reingegangen, weil sie etwas umtauschen muss. Übermorgen ist schon Weihnachten. Und warum bist du jetzt hier allein? Weihnachten soll niemand allein sein!“ Ich seufzte. Sollte ich einem kleinen Jungen irgendwas erzählen, was er sowieso nicht verstehen würde? Wahrscheinlich nicht. „Warum gerade an Weihnachten?“, fragte ich und stand auf. „Weißt du, das Schlimme an Weihnachten ist eigentlich nur, dass es alles zweimal so schlimm macht wie sonst. Ich bin immer allein, warum muss es an Weihnachten noch trauriger sein?“ Der Kleine zog die Augenbrauen zusammen und antwortete nicht. Für einen Moment tat er mir leid, deshalb setzte ich ein Lächeln auf und fügte hinzu: „Aber danke dir. Ich wünsche dir und deiner Familie schon mal fröhliche Weihnachten, Liam!“ Da strahlte er wieder. „Dir auch!“ Dann drehte er sich um und rannte zurück zum Wagen. Ich wartete noch, ehe seine Mutter zurückkam, dann fuhr das Auto über den Parkplatz.

Manhattan, New York

Da die vorherige Weihnachtskugel ihn nicht traf, schnappte ich mir noch eine vom Baum – eine schöne goldene – und warf sie in die exakt selbe Richtung.
Leider duckte sich Matthew wieder und sie explodierte an der Wand und zerbrach in tausende Scherben. „Du, Scheißkerl!“ Matthews Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Angst, Schock und einem leichten Unterton Wut, weil er nicht wusste, warum ich ihn seit geschlagenen fünf Minuten durch die Wohnung jagte und Weihnachtsdeko nach ihm warf. Als er den ersten Fuß in den Flur gesetzt hatte, war ich zu ihm gestürmt und auf ihn losgegangen. „Brittainy! Schatz, kannst du mir bitte erklären, was das jetzt soll?“, fragte er und richtete sich langsam auf. Der Typ hatte Nerven. Nerven aus Stahl. Ich schürzte die Lippen. „Ich? Ich soll etwas erklären?“
Er nickte.
„Oh man, Matthew! Ich fasse es nicht, du bist so ein widerlicher Scheißkerl!“ Ich drehte mich zur Seite und in meiner ganzen vollkommen Hysterie griff ich nach der großen Kerze unseres Adventskranzes. Blöderweise kam er mir zuvor und stieß mich sanft zur Seite, bevor Schlimmeres geschah. „Bitte, versuch dich zu beruhigen, du reagierst ja völlig über!“
Ich traute meinen Ohren nicht. „Halt deinen Mund!“
Mit meinem nächsten Atemzug riss ich mich los und stürmte am Weihnachtsbaum vorbei in mein Arbeitszimmer. Ich schnappte mir meine Jacke vom Arbeitsstuhl, griff nach meiner Handtasche und legte sie über meine Schulter. Matthew hinter mir redete auf mich ein, doch ich ignorierte seine lahmen Worte einfach. Ich knöpfte den Mantel zu und schnappte mir meine Stiefel. „Du wirst mir nie sagen, warum du jetzt Hals über Kopf verschwindest, oder?“
Das war mein Augenblick.
Ich holte den zerknitterten Kassenzettel aus meiner Hosentasche und legte ihn auf meinen Schreibtisch. Matthews Gesicht wurde jetzt kreidebleich. „Wie hast du…?“
„Obwohl du weißt, dass ich ein verdammt großes Vertrauensproblem habe, hast du nicht Besseres zu tun, als mich zu betrügen, Hm? Wie ich sehe, ist das hier ….“ Ich umfasste den Ring um meinen Finger und knallte ihn mit voller Wucht auf den Tisch. „… wohl kein Versprechen für immer gewesen. Wer auch immer die Glückliche ist, steck ihr den Ring an und verschwinde, bis ich zurück bin, aus meiner Wohnung!“

Schon eine Stunde war ich unterwegs – durch die bittere Kälte am Vorweihnachtsabend. In meinen Wimpern verfingen sich Schneeflocken und meine mit Mühe geglätteten Haare wurden durch die Feuchtigkeit wieder lockig. Ich vergrub meine Finger in meinen Manteltaschen und lief schon eine Weile durch den Central Park. Dieses Weihnachten sollte schön werden, besser als die Weihnachten davor. Schließlich war es das erste Weihnachten, an dem Matthew und ich die Gelegenheit hatten, zusammen zu sein. Er war Pilot und sein Job brachte ihn um die Welt, aber seit einiger Zeit nicht mehr zu mir. Komischerweise weinte ich noch nicht. Aus reinster, purer Erfahrung wusste ich aber, dass ich weinen würde, sobald mich die komplette Wahrheit erreicht hatte. Es war dunkel und weil ich mich noch nicht bereit fühlte, zurück zur Wohnung zu kehren, entschloss ich mich dazu, mich auf eine Bank zu setzen. Ich hasste ihn. Das war das erste Mal, dass ich so über Matthew dachte. Doch es erschütterte mich zu wissen, dass es eine andere Frau in seinem Leben gab. Oder besser gesagt, eine Affäre. Matthew war die Liebe meines Lebens, zweifellos. Aber nun wusste ich, dass meine Gefühle nichts weiter als belangloses Material gewesen war, das ich genauso gut gegen eine Wand hätte pfeffern können. Und jetzt folgten die Tränen, die zeitgleich in ein lautes Schluchzen übergingen. Ich fing an zu weinen und da ich allein war, konnte mich nichts und niemand daran hindern. Es vergingen mit Sicherheit viele Minuten, vielleicht knapp fünfundvierzig und ich blendete meine Umwelt komplett aus und konzentrierte mich auf das Aufbrausen der Gedanken in meinem Kopf. Dieser Tag war mit Abstand der schlimmste in meinem Leben. Und das, zwei Tage vor Weihnachten! Absurde, verdammte Realität! Eine Weile ließ ich mich noch in meinem Selbstmitleid besudeln, bis ich knirschende Schritte auf Kies wahrnahm und aufsah. Eine Frau, etwas jünger als ich, blickte im selben Moment zu mir und unsere Blicke trafen sich unterhalb des Lichts der Laterne. Kurz sah sie weg, wollte weitergehen, bis sie bemerkte, dass ich weinte. „Alles in Ordnung bei Ihnen?“
Ich nickte sofort und lächelte die neuen aufkommenden Tränen weg. „Ja, alles super!“
Sie runzelte die Stirn und trat einige Meter näher. Bis sie sich schließlich ungefragt neben mich setzte. „Sieht nicht so aus, was ist passiert?“
Vielleicht war ich sehr verwundert, warum sie sich neben mich setzte. Sie wirkte etwas heruntergekommen und nicht sonderlich gepflegt, ihre Klamotten waren schmutzig. Allerdings konnte mich im Moment sowieso recht wenig schocken. Einer fremden jungen Frau zu erzählen, warum ich mich einige Tage vor Weihnachten spät am Abend in den Central Park verkrümelt hatte, war möglicherweise nicht so komisch, wie ich denken konnte. Ich warf ihr einen Seitenblick zu. „Mein Ehemann hat mich betrogen!“
„Autsch!“
„Jap, autsch“, gab ich zurück und wischte mir die nächsten Tränen von den Wangen. „Dieser Scheißkerl hat mich einfach betrogen“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Ich habe Vertrauensprobleme, mein erster Freund hat mich betrogen. Heute beim Wäschewaschen ist mir aufgefallen, dass er einen Kassenzettel in seiner Hosentasche hat und auf dem waren unzählige Produkte aufgelistet, die er für seine Affäre gekauft hat. Darunter…“, meine Stimme brach. „Darunter mein Lieblingsparfüm! Meins! Kannst du dir das vorstellen? Und viele Dinge, die man seiner Affäre eben schenken würde; Unterwäsche, Schmuck, …“ Wieder fing ich an zu weinen. Meine Schultern bebten und mein Herz schlug so schnell, dass ich dachte, es würde mir mit jeder Sekunde aus dem Brustkorb springen. Toll, die erste Person, der ich von meiner kaputten Ehe erzählte, war eine fremde junge Frau, die durch die Straßen New Yorks streunte. „Hat er es denn zugegeben?“, brach sie das Schweigen. „Wie meinen Sie das?“
„Hat er denn überhaupt gesagt, dass es stimmt?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe ihn sofort damit konfrontiert und ihm keine Zeit zum Erklären gegeben…“
Sie stand auf. „Ist mit Sicherheit nicht so, wie Sie denken. Reden Sie doch nochmals mit ihm. Sie können gerne nochmals nachts rausgehen, wenn Sie wirklich wissen, dass eine andere Frau dazwischensteht. Ich muss jetzt jedenfalls los!“ Sie hatte recht. Hatte ich ihm Zeit gegeben, es zu erklären? Vielleicht war es gar nicht so, wie ich zuerst gedacht hatte. Ich musste zurück, doch vorher… „Warten Sie!“, rief ich. „Warten Sie kurz!“ Ich rannte ihr nach, während sie sich umdrehte und mich stirnrunzelnd beäugte. Sie hatte nicht gerade viel Begeisterung und Optimismus im Blut. „Bitte, verschonen Sie mich mit Ihrer Umarmung!“
„Nein, das meine ich nicht. Warum sind Sie hier?“
Sie schwieg und ließ den Blick sinken. Dann zuckte sie mit den Schultern und sagte: „Ich bin obdachlos und laufe vom einen Teil der Stadt bis zum nächsten. Fahre illegal mit dem Bus oder der Fähre. Hoffe, Sie sind kein Bulle!“ Das erklärte die Klamotten. Ich setzte zum nächsten Wort an, doch sie schnitt es mir ab: „Bitte sparen Sie sich ihre Floskeln, ich weiß es klingt erbärmlich, weil bald Weihnachten ist, aber Weihnachten macht alles zweimal so schlimm, von dem her…“ „Das meinte ich nicht… Wollen Sie vielleicht noch mitkommen? Klingt dämlich, aber vielleicht, wenn ich mit Matthew nochmals rede und es sich klärt, können Sie zum Abendessen bleiben?“ Eigentlich wollte ich sie bis nach Weihnachten bei mir behalten, aber ich wollte nicht sofort mit der Tür ins Haus fallen.
„Sie seufzte. „Wir kennen uns doch gar nicht. Warum sollten Sie mich bei sich zuhause haben wollen?“ Ich streckte ihr meine Hand entgegen. „Weil du mir geholfen hast, nochmals über Matthew nachzudenken – ich bin Brittainy und du bist?“ Ein Augenrollen später gab sie mir schließlich ihre Hand und stellte sich ebenfalls vor: „Kiara.“

Manhattan, New York

Und du sagst, sie hat eure gesamten Weihnachtskugeln auf dich geschmissen?“ Abby reichte mir meine Kaffeetasse und schenkte mir einen mitleidigen Gesichtsausdruck. Sie hätte wohl nie gedacht, dass sie das erwarten würde, wenn sie uns besuchen kam. Ich nickte. „Sie wollte eine Kerze nach mir schmeißen“
„Das klingt nach meiner Schwester!“
Liam, Abbys kleiner Sohn, sprang auf meinen Schoß und jammerte: „Denkst du, dass sie wieder zurückkommen wird?“
Ich versicherte ihm, dass Brittainy wiederauftauchen würde, aber ich glaubte meinen eigenen Worten kaum. Schließlich war es meine Schuld gewesen, dass sie weg war und überall sein konnte. Ich machte mir große Sorgen, verdammt große Sorgen. Wir lebten in einer der einflussreichsten Städten des gesamten Landes, so abwegig war es gar nicht. Eigentlich wollten Abby und Liam erst morgen kommen, aber ich war so unter Schock gewesen, dass ich sie sofort hergebeten habe, um weibliche Unterstützung zu haben. Schließlich war es eine Königsdisziplin in einem Streit mit Brittainy die Nerven zu bewahren und durchzuhalten. Abby, die sie seit Kindheitstagen kannte, hatte somit genau die richtigen Mittel, um sie wieder zu beruhigen. Ich nahm Liam von meinem Schoß und strich mir durch die Haare. „Abby, ich werde rausgehen und ….“
„Oh, nein, das kommt gar nicht in Frage. Du wirst nicht nochmals durch die Stadt streunen. Wir versuchen es noch ein paar Mal, bei ihr anzurufen, dann rufen wir die Polizei!“ „Sie antwortet auf keine Anrufe oder Nachrichten, uns bleibt nichts mehr übrig, wir …“ Unser Gespräch wurde je unterbrochen, als just in diesem Moment ein Schlüssel die Haustüre öffnete und Brittainy in wenigen Sekunden in der Küche stand. Sie sah mich an und ich bemerkte ihre roten Wangen und wirren Haare; sie musste durch die Kälte gelaufen sein. Doch sie war nicht allein – hinter ihr sah ich eine weitere junge Frau, deren Kleidung nicht besonders frisch aussah. Natürlich stellte ich mir einige Fragen, aber für die gab es auch später noch genügend Zeit. Es wurde still, bis Brittainy einen Schritt in meine Richtung wagte und vorsichtig meinte: „Matthew, können wir miteinander reden?“

Matthew und Brittainy verschwanden in einem der hinteren Zimmer, ich hätte schwören können, dass die gesamte Stimmung zum Zerreißen gespannt war – nichts, was man einige Tage vor Weihnachten brauchte. Ich hasste Weihnachten sowieso, ich begann mich sogar zu fragen, warum ich Brittainy gefolgt war, denn jetzt sahen mich der kleine Knirps und die andere Frau mit großen Augen an und warteten auf eine Erklärung. Deshalb hielt ich es kurz: „Brittainy und ich kennen uns!“
Gelogen war es nicht, selbst wenn, mir egal…
Nur Liam lächelte mich an, weil er mich natürlich erkannte und als die andere Frau nicht hinsah, erwiderte ich es einfach.
Aber; das Drama der beiden hatte tatsächlich ein gutes Ende, sie vertrugen sich. Besser noch, ich blieb den nächsten Tag, dann noch einen und schließlich den letzten, bis zum Weihnachtsmorgen. Brittainy lieh mir Klamotten von ihr und ließ mich duschen. Es fühlte sich unbeschreiblich gut an und ich hätte mich daran gewöhnen können. Brittainy offensichtlich auch, denn sie überschüttete mich mit so einer großen Nächstenliebe, dass ich kurz vor dem Wahnsinn stand. Anders als sonst schätzte ich es trotzdem. Als ich am fünfundzwanzigsten aufstand und eigentlich gehen wollte, bemerkte ich Liam, der auf dem Sofa saß. Allein in seinem roten Schlafanzug. Seine Füße baumelten leblos in der Luft und sein Kopf war gesenkt. „Lass ihn“, dachte die Stimme in mir, aber irgendwas verleitete mich doch dazu, zu ihm zu gehen und mich neben ihn auf das Sofa zu setzen. Er schreckte hoch, dann begann er zu lächeln, ehe sein Lächeln wieder starb. „Warum bist du hier allein?“, fragte ich. Er zuckte mit den Schultern. „Mein Dad ist nicht gekommen, Mom meinte, er wäre zu beschäftigt gewesen, er würde mit mir nachfeiern“ Das meinte ich. Weihnachten formte aus der Mücke einen verdammten Elefanten. Aber Liam konnte ich verstehen, schließlich war er noch von der Wahrheit der tristen Welt verschont geblieben. „Hey, Kopf hoch. Dein Vater vermisst dich sicherlich auch“
„Denkst du?“
„Ja, ganz bestimmt, außerdem…“ Ich stand auf und holte etwas aus dem Gästezimmer. „Hier, ich bin mir sicher, du willst die hier dringender als ich. Keine Sorge, ist nicht dieselbe, Brittainy hatte ein paar von denen in ihrem Gästezimmer liegen. Bringt deinen Vater zwar nicht her, aber bei dir hat mich das auch aufgeheitert!“ Liams Augen wurden groß und er nahm die Zuckerstange mit einem breiten Grinsen entgegen. „Danke, ist ja voll cool!“ Dann sprang er auf und umarmte mich. Das war die weihnachtlichste Geste, die ich je hinter mich gebracht hatte. Mag sein, dass ich mich in den nächsten Jahren nicht wirklich ändern würde – Menschlichkeit war mir so fern, wie die Sonne der Erde. Aber jeder von uns verdient ein wenig, wenn auch nur ein klitzekleines bisschen, Weihnachten. Und dabei geht es nicht um Geschenke, sondern um das Herz.

Ende.

Eine Erzählung von Vanessa S., F10B

Speechless

Eine kurze Geschichte

Das wirkliche Problem, eine Seite an sich zu verstecken ist nicht unbedingt das Verstecken an sich. Glaubt mir, das ist sogar ziemlich einfach, wenn nicht sogar geschenkt. Zumindest für jemanden, der seit dem sechsten Lebensjahr jeder brenzligen Situation clever aus dem Weg geht. So, dass es niemand bemerkt. Klar, ich war diejenige, die unter dem schweren Scheinwerferlicht der Konsequenzen stand. Ich bekam die schlechten Noten, Ich war nicht fähig, Buchstaben auseinanderzuhalten, Ich hielt mich schlichtweg zu blöd dafür. Solange ich aber nicht ständig im Scheinwerferlicht stand, und die Umstände unbemerkt verändern konnte, war ich zufrieden. So zufrieden, wie man es als „Halbanalphabetin“ sein konnte. Nicht jeder wird meinen Standpunkt klar verstehen können, aber um es wörtlich zu fassen war es, als würde man einen mit Nägeln bespickten Erdklumpen mit Zuckerguss überziehen. Also quasi grauenhaft. Ich war nie zu dumm, um es nicht zu lernen, sondern immer darauf vorbereitet.

So wie heute.

Seit knapp elf Wochen, seit Beginn des Schuljahres, wurde uns deutlich gemacht, nach einem zweiwöchigen Praktikum zu suchen. Als Tierarzthelferin hätte ich nicht gerade hohe Chancen gehabt, eine gute Bewertung zu kassieren – verdammt, ich hatte selbst Schwierigkeiten, die Adresse herauszufinden. Ob es ein Fluch oder Segen war, dass es einen Kindergarten zwei Straßen weiter von mir gab, konnte ich mir damals noch nicht beantworten. Die Papiere hatte meine Mutter für mich erledigt, meine schwache Ausrede, ich hätte keine Zeit, funktionierte bei ihr immer. Nun aber hielt mich gar nichts mehr davon ab, ein paar Stunden alles zu vergessen. Ich musste nur spielen, vielleicht herumrennen und darauf achten, dass sich die Kinder nicht die Köpfe anschlugen. Sogar wickeln hörte sich einladender an als die Schule. Hier konnte schließlich niemand lesen oder schreiben. Ich war sozusagen unter Gleichgesinnten. Deshalb war es auch nicht gerade nervenaufreibend, durch die buntgeglaste Türe zu marschieren, das Büro zu finden und mich kurzerhand in eine Meute voller energiegeladener Kinder zu stürzen. Ich hatte zwar nicht mit einberechnet, wie viele Kinder reden können, aber die ersten drei Tage fiel es auch nicht wirklich auf. Eher hatte ich Schwierigkeiten, mich auf alles zu konzentrieren, während ich gleichzeitig malte, sang oder mich in einem zu kleinen „Reallife-Puppenhaus“ befand.

Schlechte Seiten machen es sich aber zu Gewohnheit, genau in zwei Momenten sich zu zeigen: Entweder, wenn man nicht flüchten kann oder man es schier nicht erwartet. Typischerweise traf mich beides im selben Augenblick.

Mich überkam ein vertrauter, eiskalter Schauer, als mir Tommy mit einem frechen Grinsen im Gesicht ein Buch in die Hand drückte. Es dauerte keine zwei Sekunden, da stolperte mein Herz aus dem ruhigen Rhythmus und mein Mund wurde staubtrocken. Ich war umringt von kleinen Kindern, die mir mit ihrem süßen Funkeln in den Augen klar machen wollten, das Buch aufzuschlagen und zu lesen. Es war beschämend einfach, aufzustehen und eine Ausrede zu erfinden. Schließlich fraßen Kinder einem aus der Hand, solange man glaubwürdig genug rüberkam. Ein anderes Mädchen lachte zuerst, bevor sie an meinem Ärmel zerrte und dann zwei vernichtende Wörter sagte: „Lies vor!“ Ich starrte auf das Cover, weil plötzlich alle Buchstaben aus dem Titel in einer Welle aus unentzifferbaren Symbolen untergingen. Zum Glück kannte ich die Geschichte, aber nicht auswendig. Die Raupe Nimmersatt. Erfinde eine Ausrede, erfinde eine Ausrede. Sag ihnen, dass du nicht kannst. „Ich kann nicht“, presste ich schließlich hervor, während ich auf die zwei roten, kugelrunden Augen der Raupe blickte. Ich wusste nicht, was mich mehr zerbrechen ließ, ihre enttäuschten Gesichter oder die Tatsache, dass es mir schwerfiel, ein Kinderbuch mit nur zwei Sätzen pro Seite zu lesen. Vielleicht hätte ich es hinbekommen, schließlich gab es auch Texte in der Schule, die wir vorlesen mussten. Aber da ging ich auch immer aufs Klo oder las so langsam, dass die Lehrer mich gar nicht erst aufriefen. Im Stress zu lesen war unmöglich für mich. „Wieso nicht?“ Tommy rutschte näher zu mir. „Weil ich…“ Als hätte es die Situation nicht noch schlimmer gemacht, bemerkte ich jemandem im Türrahmen stehen. Meine Betreuerin lächelte mich an und verschränkte die Arme vor der Brust.Die Kinder bemerkten sie nicht, deshalb dachten sie auch nicht daran, mich mit meiner faulen Ausrede allein zu lassen. Mir wurde warm. Sehr warm. Und immer mehr Kinder rutschten Tommy nach und warteten darauf, dass ich das Buch aufschlug. „Ich kann nicht…“ Ich biss mir auf die Lippen. „Weil ich aufs Klo muss. Außerdem ist doch lesen richtig langweilig, wie wäre es, wenn wir stattdessen…“ Ich sah mich panisch um und griff nach einem der Kuscheltiere. „Ein bisschen kreativer sind und etwas spielen, wenn ich wieder zurückkomme?“ Die Mehrheit war schnell begeistert, sie sprangen auf und fingen an, alle Kuscheltiere und Puppen zusammenzusuchen, die anderen ließen enttäuscht die Schultern sacken. Ich allerdings nutzte die Gunst des Moments, um aufzustehen und mich durch die am Boden liegenden Spielzeuge zu bewegen.

Ich war erleichtert und fühlte mich, als wären mir Flügel gewachsen und würden mich von den ganzen Buchstaben wegtragen. Genau solche Situationen meinte ich. Aber was neben meinem Hass gegenüber der Sprache und Buchstaben noch sehr typisch für mich war?

Ein größerer Schock ließ nie weit auf sich warten. Denn als ich lächelnd an meiner Betreuerin vorbeilaufen und auch wirklich zu den Toiletten wollte, hielt sie mich am Arm zurück. „Warum hast du den Kindern nicht vorgelesen?“

Kurze Randnotiz: Aus solchen Situationen zu fliehen wäre, wie sich mit einem riesigen Schild auf die Straße zu stellen, auf dem ICH KANN NICHT LESEN steht. Die Ironie dahinter wäre, dass ich noch jemanden beauftragen müsste, das Schild zu schreiben.

„Die meisten sind schon am spielen. Vielleicht wäre es gut, wenn sie sich für den Abend etwas auspowern…“ Sie musterte mich voll Argwohn. „In Ordnung. Aber denk auch daran, dass sie es nicht übertreiben sollen.“ Ich nickte. „Sicher.“ Dann zwang sie sich zu einem Lächeln und ließ mich schließlich vorbeilaufen. Glücklicherweise war ich allein und ich konnte mich problemlos in einer Kabine einsperren. Ich fing an zu weinen und nach zehn Minuten kümmerte es sowieso niemanden mehr, wo ich steckte. Aber wisst ihr, was wirklich das Problem an so einer Seite ist? Zu wissen, dass mein Leben, in welche positiven Wege es auch laufen mag, in dieser Sache nie ein Happy End haben wird. Es wird mich immer belasten oder belastet haben.

Sollte ich etwas Gutes aus dieser Sache ziehen, dann wäre es, dass ein Happy End niemals so viel Respekt bekommen wird wie ein schlechtes Ende. Und für jemand anderen, der irgendwann unter noch hellerem Scheinwerferlicht stehen wird, könnten es vielleicht genau die Worte sein, die er dann braucht.

Ende.

Eine Kurzgeschichichte zum Thema Anaplphabetismus, verfasst im Rahmen des Deutschunterrichts

von Vanessa S., F10B